Greta fällt es leicht, sich im Zahlenraum bis zehn zu orientieren. Die geübten Additions- und Subtraktionsaufgaben bewältigt sie schnell und sicher. Sie könnte sich allerdings stärker am Unterricht beteiligen. Anton hat den Leselehrgang erfolgreich begonnen und erstellt schriftliche Arbeiten in ansprechender Form. Er benötigt jedoch häufig noch mehr Zeit.
Mit Sätzen wie diesen schätzen Grundschullehrer in Sachsen ein, wie gut es Erstklässlern gelingt, den Lernanforderungen gerecht zu werden. Laut sächsischer Schulordnung müssen die Berichtszeugnisse „dem Ziel einer ermutigenden Erziehung dienen und Informationen für die Förderung des Schülers beinhalten“. Ab der zweiten Klasse werden dann zunehmend Schulnoten vergeben, um den Lernprozess zu beurteilen.
So wird Leistung bewertet:
In der Klassenstufe 1 werden keine Noten erteilt.
In der Klassenstufe 2 wird in den Fächern Deutsch, Mathematik und Sachunterricht benotet.
Ab Klassenstufe 3 wird in allen Fächern mit Ausnahme des Faches Englisch benotet.
Das Fach Englisch wird erst ab Klassenstufe 4 benotet.
Werden keine Noten erteilt, ist die Leistung verbal einzuschätzen. Ergänzend zur Benotung kann eine verbale Einschätzung hinzutreten.
Mit den Zeichen + und – kann zusätzlich eine Notentendenz angeben werden.
Benotet wird mit den Ziffern 1 bis 6 (sehr gut bis ungenügend).
Auch Betragen, Fleiß, Mitarbeit und Ordnung werden mit den sogenannten Kopfnoten bewertet.
*laut sächsischer Schulordnung, alternative Schulangebote können davon abweichen
Verbale Einschätzungen können die Benotung zwar weiterhin ergänzen, im Mittelpunkt stehen fortan jedoch die Ziffern eins bis sechs. Dass diese Form der Leistungsbewertung so früh eingeführt wird, entspreche dem Wunsch vieler Eltern und Lehrer, wie Roman Schulz, Sprecher des Sächsischen Landesamtes für Schule und Bildung, betont: „Als wir unser Schulsystem in den frühen 1990er Jahren umgebaut haben, haben sich alle Beteiligten klar für eine Benotung ausgesprochen. Bei dieser Entscheidung ist der Freistaat bis heute geblieben. Während in anderen, vor allem westdeutschen, Bundesländern immer mal wieder bildungspolitische Debatten über den Sinn oder Unsinn von Schulnoten geführt wurden, war das Thema in Sachsen im Prinzip unstrittig.“
Glücksgarant oder Spielverderber?
Dass Zensuren in Deutschland fest verankert sind und in der Bevölkerung große Zustimmung finden, bestätigt Dr. Katrin Liebers, Professorin für Grundschulpädagogik an der Universität Leipzig. Als Gründe führt sie an: „Noten ermöglichen aus Sicht der Eltern und Lehrer auf den ersten Blick eine schnelle Orientierung und bieten, solange sie gut ausfallen, auch für Kinder einen Anreiz.“
Genau das ist der Knackpunkt: Eine Notenskala von eins bis sechs ist zwar leicht verständlich, aber Motivation und Frustration liegen hier dicht beieinander.
Wer den Mathe-Test mit einer 1 – also einer besonders guten Leistung – besteht, wird seinen Eltern entsprechend stolz davon berichten. Steht hingegen eine 4 unter der Arbeit, trauen sich manche Kinder vor lauter Scham und Angst nicht mehr nach Hause. Dabei wäre die Leistung im Wortlaut noch ausreichend, hätte der Schüler also bestanden.
Doch wenn Zensuren hinter den Erwartungen zurückbleiben und sich trotz intensiver Bemühungen nicht verbessern, hört der Spaß am Lernen schnell auf, bekommen schon Achtjährige eine Ahnung davon, was es mit dem zum Schulanfang oft zitierten Ernst des Lebens auf sich hat.
Das Schreckgespenst, das spätestens ab der dritten Klasse in Grundschulen in Leipzig und ganz Sachsen umgeht, heißt Bildungsempfehlung.
Stichwort Bildungsempfehlung
Alle sächsischen Grundschüler erhalten am Ende des ersten Halbjahres der vierten Klasse eine sogenannte Bildungsempfehlung. Darin wird auf Basis des in den Fächern Deutsch, Mathematik und Sachunterricht erreichten Notendurchschnitts eine Empfehlung für die weiterführende Schule abgegeben. Hat der Schüler mindestens einen Wert von 2,0 erreicht, lautet die Empfehlung Gymnasium.
Die Bildungsempfehlung wurde zum 1. März 2018 geändert. War sie bis dato verbindlich, hat sie nun nur noch orientierenden Charakter. Die Eltern haben das letzte Wort. Das heißt, ein Schüler ohne Bildungsempfehlung fürs Gymnasium kann trotzdem auf diesen Schultyp wechseln. Voraussetzung ist aber, dass der Schüler an einem verpflichten Leistungstest teilnehmt. Bei Nichtbestehen folgt ein verpflichtendes Beratungsgespräch. Sollte der Wunsch, auf ein Gymnasium zu gehen, trotz allem bestehen, wird dem stattgegeben.
Die Übergangsquoten aufs Gymnasium liegen in den sächsischen Ballungszentren bei mehr als 50 Prozent. Etwa neun Prozent davon sind Schüler ohne entsprechende Bildungsempfehlung.
„Zuweilen hat man den Eindruck, dass bei den Kindern und vor allem den Eltern das ganze weitere Lebensglück von der Entscheidung Oberschule oder Gymnasium abhängt“, berichtet Annette Baumeister, Leiterin des Arbeitskreises Freie Schulen beim Stadtelternrat Leipzig.
Obwohl in dieser Frage inzwischen nicht mehr vorrangig der Notendurchschnitt, sondern der Elternwille zählt, hat sich die Situation laut Stadtelternrat Leipzig (SER) nicht spürbar entspannt. Das bleibt nicht folgenlos.
„Wenn ein nichtpädagogischer, gesellschaftlich verkürzter Leistungsbegriff schon in der Grundschule überbordet und ein hoher Leistungs- und Wettbewerbsdruck auf der Jagd nach guten Noten für Übergangsempfehlungen für das Gymnasium einsetzt, kann das zu psychischen Folgekosten wie Versagensängsten, negativen Selbstbewertungen oder Krankheitssymptomen führen“, warnt Liebers.
Noten sind nicht gerecht
„Was Leipziger Eltern zudem umtreibt, ist die Tatsache, dass bei den Zensurengar keine Vergleichbarkeit gegeben ist“, ergänzt Michael Gerhardt, Vorsitzender des Arbeitskreises Grundschulen im Stadtelternrat Leipzig. Denn die Notenschlüssel, die in Sachsen zur Anwendung kommen, werden durch die Lehrerkonferenz einer jeden Schule beschlossen. Das bedeutet, dass eine identische Leistung unterschiedliche Noten nach sich ziehen kann – je nachdem ob in dieser Grundschule zum Beispiel die Note 1 schon ab 95 Prozent der geforderten Leistung oder erst ab 98 Prozent vergeben wird.
Selbst die Ergebnisse in Parallelklassen lassen sich nicht miteinander vergleichen, weil der eine Lehrer beim Diktat vielleicht eher schwierige Wörter ausgewählt, der andere den Schülern mehr Zeit zum Üben eingeräumt hat.
Roman Schulz vom Sächsischen Landesamt für Schule und Bildung versteht den Unmut. „Das hat mich als Vater selber geärgert, natürlich. Trotzdem gehört all das zum Ermessungsspielraum der Lehrer, der ausdrücklich gewollt ist. Man muss sich ohnehin darüber im Klaren sein, dass in die Bewertung durchaus eine subjektive Komponente mit einfließt.“
In der Tat haben viele wissenschaftliche Untersuchungen nachdrücklich gezeigt, dass Noten nicht objektiv sind. „Wie Leistung bewertet wird, hängt stark vom Lehrer und den sozialen Bezugsnormen, also dem Vergleich mit den Schülern einer Klasse oder Schule, ab. Hinzu kommt, dass bei der Beurteilung unbewusst viele weitere Faktoren einfließen. Vorinformationen und das Bild, das ein Lehrer von einem Schüler hat, spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Reihenfolge der Arbeiten – nach einer sehr schwachen wirkt eine mittelmäßige besser als nach einer sehr guten und umgekehrt“, erklärt Professorin Liebers.
Laut einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Nachhilfeinstituts Studienkreis vertrauen zwei Drittel der Eltern darauf, dass ihre Kinder in der Grundschule fair benotet werden.
Geht es auch ohne?
Noten sind allerdings nicht die einzige Form, um schulische Leistungen zu bewerten. Neben verbalen Rückmeldungen zählen Selbsteinschätzungsbögen, Lernlandkarten, Kompetenzraster und Portfolios zu den Alternativen.
Einige Leipziger (Grund-) Schulenkommen bereits ohne Noten aus beziehungsweise führen diese erst später ein.
Die (staatliche) Gemeinschaftsschule Nachbarschaftsschule (Nasch) zum Beispiel schreibt auf ihrer Homepage, dass sie bis zur 7. Klasse auf Zensurenverzichtet. „Mit hohem zeitlichen Aufwand“ schreiben die Lehrer stattdessen Einschätzungen für notenfreie Zeugnisse und führen in den oberen Klassen Lernzielgespräche.
Das Bischöfliche Maria-Montessori-Schulzentrum, eine Schule in freier Trägerschaft, vergibt keine Kopfnoten und gewöhnt ihre Schüler erst im zweiten Halbjahr der dritten Klassenstufe allmählich an (Fach-) Noten. Ansonsten erhalten die Schüler immer eine Wortbeurteilung und es finden regelmäßige Elternsprechtage und Lernstandsgespräche statt. „Normalerweise gibt es in Montessorischulen gar keine Zensuren. Da wir aber mit staatlicher Anerkennung arbeiten wollen, müssen bestimmte Vorgaben eingehalten werden. Das heißt unter anderem, dass wir Schülerleistungen benoten müssen, um die Bildungsempfehlungaussprechen zu dürfen“, führt Katleen Schkölziger, Leiterin der Grundschule, aus.
Ob sich die Notengebung positiv oder negativ auswirkt, lässt sich ihrer Meinung nach nicht verallgemeinern. Ein Teil der Schüler zeige mit einsetzender Benotung keinerlei Veränderungen im Leistungs- oder Sozialverhalten, ein Teil weise zu Beginn mehr Unsicherheiten und Ängste auf und fühle sich unter Druck gesetzt, und ein Teil werde motiviert und steigere noch einmal die Leistungs- und Anstrengungsbereitschaft. „Wenn Sie mich aber nach der Grundeinstellung des Lehrerteams fragen, sagen wir durchaus, dass wir gut und gern ohne Zensuren den Schulalltag leben könnten.“
Einen Sonderweg gehen auch die Waldorfschulen, die in Sachsen den Status einer genehmigten Ersatzschule haben. „Schulnoten machen für uns gerade bei den Kleinen gar keinen Sinn, weil wir einen anderen Blick auf die Schüler richten und ganz andere Ziele verfolgen“, sagt Nina Luckner, Lehrerin an der Freien Waldorfschule Leipzig.
Es gehe eben nicht darum, dass die Kinder eine bestimmte Leistung erbringen. Vielmehr wolle man sie so annehmen wie sie sind, mit ihren Stärken und Schwächen, und sie in ihrer Entwicklung unterstützen. Lernen soll Spaß machen, die Motivation dazu aus den Schülern selbst entspringen.
Inwiefern diese Prozesse in Gang gekommen sind und wo es eventuell noch Zeit und Hilfe braucht, hält Luckner in einem ausführlichen, pädagogisch sinnvollen Textzeugnisfest. „Das Schreiben ist eine Kunst für sich. In jedem Zeugnis versuche ich das Charakteristische des Schülers herauszuarbeiten. Das schließt vorgefertigte Textbausteine aus.“ In der Praxis klingt das so: Mit leuchtenden Augen entdeckt Johanna die Welt der Buchstaben. Ole war der Klasse beim Singen eine Stütze.
Berichte sind aufwendig und manchmal missverständlich
Den zeitlichen Aufwand für solch eine Textbeurteilung schätzt die Waldorf-Pädagogin auf etwa eine Stunde pro Kind. Da Sprache jedoch viel komplexer ist und deutlich mehr Interpretationsspielraum lässt als eine bloße Ziffer, gibt es hin und wieder Verständnisprobleme auf Seiten der Eltern und Schüler, wie sie offen eingesteht. „Dem setzen wir uns aus. Wir sind generell sehr gesprächsbereit, stehen mit den Eltern in engem Kontakt.“ Mit Blick auf die nahenden Abschlussprüfungen werden ab Klasse 11 dann aber doch Zensuren als Feedback zum Lernfortschritt verteilt.
Dass Eltern (und später Personalchefs) mitunter Schwierigkeiten haben, Berichtszeugnisse richtig zu deuten, bestätigen auch Katrin Liebers und Roman Schulz. So manche Formulierung erinnert stark an Arbeitszeugnisse aus der Erwachsenenwelt. Sofie hat sich im Werkunterricht immer sehr viel Mühe gegeben – was heißt das konkret? Wird Leistung hingegen nur in einer Ziffer zusammengefasst, ist die Aussagekraft hinsichtlich der Teilbereiche in jedem Schulfach ebenso begrenzt.
Zum Schluss gelten die gleichen Bedingungen für alle
Letztlich wartet am Ende der Schulzeit auf jeden Schüler eine Abschlussprüfung. Alle, die einen staatlichen Abschluss machen wollen, müssen über dieselbe Hürde springen, das Gleiche leisten. Ganz egal ob sie vorher an einer Regelschule klassisch benotet oder an einer freien Schule mit alternativen Methoden bewertet wurden. Was zählt, ist das finale Zeugnis und dort steht eine Note. Bestanden mit 2 (gut).
Darin wird deutlich, welche zentrale Funktion Zensuren erfüllen: „Über sie wird gesellschaftlich legitimiert die Auslese-, Zuweisungs- und Berechtigungsfunktion der Schule umgesetzt“, fasst Katrin Lieberszusammen.
Wollte man Noten abschaffen, bräuchte man ein anderes System, um den Zugang zu weiterführenden Schulen sowie zu Berufsschulen und Studiengängen zu regeln.
Die Lösung könnten Aufnahmeprüfungen oder ein einheitliches Schulsystem von Klasse eins bis zehn sein, wie es in einigen anderen Ländern der Welt üblich ist.
„Für die meisten Eltern ist jedoch das gegliederte Schulsystem in Deutschland das Wunschsystem und schon die geplante Ausweitung der Grundschulzeit auf sechs Jahre hat Landesregierungen zum Stürzen gebracht.“
Von Constanze Dietsch