Jedes Kind in Deutschland muss in die Schule gehen, ob seine Eltern die Bildungspolitik unterstützen oder nicht. Auch deshalb wird sie immer wieder kritisiert, diskutiert und reformiert. In keiner Lebensphase greift der Staat so stark in das Privatleben seiner Bürger ein wie in der Schulzeit. Was Bildungspolitik macht und wie sie erlebt wird, hängt dabei aber stark davon ab, wo in Deutschland man sich befindet.
Quelle: Süddeutsche Zeitung: vom 4.09.2017
Föderalismus: Lernen in 16 Bildungssystemen
Das deutsche Bildungssystem gibt es nicht, vielmehr gibt es 16 Bildungssysteme in 16 Bundesländern, die sich mehr oder weniger stark unterscheiden. Kritiker klagen seit vielen Jahren, dadurch seien schulische Leistungen nicht vergleichbar, der Schulwechsel zwischen zwei Bundesländern unnötig kompliziert und Kinder würden hier mehr und dort weniger lernen – was spätestens beim Wechsel in die Ausbildung oder auf die Uni zum Problem wird.
Befürworter des Systems loben den Konkurrenzkampf zwischen den Ländern und heben die große Flexibilität hervor. Wichtig ist in diesem Zusammenhang das sogenannte Kooperationsverbot. Demnach darf der Bund die Länder im Schulbereich finanziell nur bei baulichen Maßnahmen unterstützen, aber zum Beispiel nicht beim Personal. Während arme Länder unter diesem Verbot leiden, haben reiche Bundesländer kein besonderes Interesse, das Kooperationsverbot abzuschaffen. Denn solange sie kein Geld vom Bund annehmen, bleibt die Schulpolitik, was sie ist: Ländersache.
Wie können unsere Schulen besser werden?
Die Diskussion über die beste und gerechteste Bildung ist mindestens so komplex wie die deutsche Bildungslandschaft. Für das Democracy Lab in Köln (weitere Informationen zur Veranstaltung und wie Sie teilnehmen können erfahren Sie hier) haben wir deshalb drei Fragen zu gesellschaftlichen Entwicklungen ausgemacht, auf die Schulen heute besonders dringend reagieren müssen.
Migration: Multikulti im Klassenzimmer
Integration in der Schule – schaffen wir das?
Was müssen Schulen leisten, um Kindern mit Fluchtgeschichte, fremdsprachigen Eltern und deutschen Wurzeln gleichermaßen gerecht zu werden?
Der „Pisa-Schock“ von 2001 ist Geschichte. Oder? Deutsche Jugendliche können viel besser lesen und rechnen als bei den ersten Erhebungen. Aber zwischen Schülern mit und ohne Migrationshintergrund haben die OECD-Forscher 2015 immer noch einen Leistungsabstand gemessen.
In Deutschland leben mehr als fünf Millionen Menschen unter 20 Jahren, die selbst eingewandert oder die Kinder eingewanderter Eltern sind. Jedes dritte Schulkind hat einen Migrationshintergrund – und damit vergleichsweise schlechte Jobchancen sowie schlechtere Aussichten, das Gymnasium zu besuchen.
Das Hauptproblem sind mangelnde Sprachkenntnisse. Die Mehrzahl der 4- bis 15-Jährigen in dieser Gruppe spricht zuhause eine Fremdsprache. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer hat Familien dazu „angehalten“, das zu ändern; ein Vorschlag, für den er 2014 sogar aus seiner eigenen Partei Kritik erntete. Um zu erreichen, dass Schüler mehr Zeit in einem deutschsprachigen Umfeld verbringen, schlagen Sozialverbände Ganztagsschulen vor. Ob ein längerer Unterrichtstag sie wirklich integriert, kann laut einem Bericht der Bundesregierung nicht eindeutig belegt werden.
Zu viele Schüler mit zu unterschiedlichen Ansprüchen: Das kann Lehrer überfordern. Außerdem sind auch sie nicht vor Vorurteilen gefeit – was sich auf die Noten auswirken kann. Im Lehramtsstudium gehen Universitäten zumindest inzwischen stärker auf Diskriminierung ein, schreiben Forscher verschiedener Institute im Bildungsbericht 2016.
Der Bericht beschreibt die „bedarfsorientierte Mittelzuweisung an Schulen“, die einige Bundesländer eingeführt haben: Ressourcen werden nicht gleichmäßig auf alle Schulen verteilt, sondern anhand von Sozialindizes. Diese messen zum Beispiel den Anteil von Arbeitslosen oder Fremdsprachlern in der Elternschaft.
Die Flüchtlingskrise fordert die Schulen besonders heraus: Sie müssten laut Bildungsbericht bundesweit mindestens 10 000 neue Lehrer und einige Hundert Sozialarbeiter einstellen.
Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) hat geflüchtete Jugendliche befragt und herausgefunden, dass die meisten von ihnen „hoch motiviert“ sind. Flüchtlinge verstehen sich gut mit ihren Klassenkameraden, wenn sie am regulären Unterricht teilnehmen. Wenn. Die meisten dürfen das nämlich nicht: Sie kommen in „Übergangs“- oder „Vorbereitungs“-Klassen, in denen sie schneller Deutsch lernen sollen. Allerdings schotten diese Extra-Kurse ab, Kritiker sprechen von Segregation. Obendrein, stellt das DJI fest, sei der Unterricht improvisiert, die Lehrkräfte wechselten ständig und in den Klassen gebe es große Altersunterschiede.
Kinder mit Migrationshintergrund haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, in Haushalten aufzuwachsen, in denen Geldmangel und nicht etwa akademische Bildung das zentrale Thema ist. Vergleicht man bei Pisa innerhalb sozioökonomischer Gruppen die Leistung von Schülern mit und ohne Migrationshintergrund, dann schneiden Kinder mit ausländischen Wurzeln nicht viel schlechter ab. Für ein integriertes Schulsystem müsse „der Abbau sozialer Ungleichheiten in den Blick genommen werden“, mahnen deshalb die DJI-Experten.
Digitalisierung: Medienkompetenz und Cybermobbing
Brauchen wir Snapchat-Unterricht? Social Media im Klassenzimmer
Auch wenn im Unterricht an Schulen immer mehr digitale Lehrmittel zum Einsatz kommen, über Social Media wird in den Klassenzimmern noch immer relativ wenig gesprochen. Viele Lehrer empfinden die sozialen Medien als Ablenkung und wagen sich daher nicht daran, sie in ihre Stunden zu integrieren.
Es gibt auch rechtliche Hürden. In Bayern zum Beispiel dürfen Lehrer keine gemeinsamen WhatsApp-Gruppen mit ihren Schülern gründen, da die Möglichkeit bestünde, dass Kinder ohne Smartphone außen vor bleiben könnten; dazu kommen Probleme in puncto Datenschutz. Auch sonst sind die meisten Lehrkräfte angehalten, sich in den sozialen Medien von Schülern fernzuhalten. Freundschaftsanfragen auf Facebook etwa sollen in jedem Fall so lange abgelehnt werden, wie der anfragende Schüler dieselbe Schule besucht. Kurzum: Zwischen Schule und Social Media gibt es eine große Distanz – obwohl Facebook, Twitter, Instagram etc. zu einem immer größeren Teil der Lebenswelt der Kinder werden.
Problem: Cybermobbing
Ausgrenzung einzelner Kinder war schon im analogen Zeitalter eine Herausforderung an Schulen. Digital sind die Möglichkeiten, andere zu verletzen und zu beleidigen nun noch größer geworden; Betroffene zu schützen hingegen sehr viel schwieriger. Cybermobbing ist an deutschen Schulen ein Problem, laut Umfragen haben bis zu einem Drittel der Schüler schon Erfahrungen damit machen müssen. Die Schulen kämpfen auf sehr unterschiedliche Arten gegen das Problem, in Baden-Württemberg etwa läuft aktuell ein Pilotprojekt:
Wie fühlen sich die Lehrkräfte?
Das hat unter anderem die Deutsche Telekom Stiftung 2016 untersucht. In der Befragung von 1210 Lehrkräften kam heraus: Die meisten Lehrkräfte schätzen ihre eigene Medienkompetenz positiv ein. Knapp die Hälfte der Befragten – und damit etwas mehr als im Jahr zuvor – kann auf ein schulinternes Medienkonzept zurückgreifen. Dennoch sind sich Fachleute einig, dass die Digitalisierung der Schulen und des Unterrichts nicht damit getan sein wird, den Schulen nur genug Budget für Hard- und Software zukommen zu lassen. Es sind umfangreiche und fortlaufende Schulungen des Lehrpersonals notwendig, damit der Unterricht mit der Entwicklung der technischen Möglichkeiten Schritt halten kann.
Bildungsexpansion: Abiturientenschwemme und „Resteschule“
„Wer kein Abi macht, ist doof!?“
Der Arbeitnehmer der Zukunft muss komplexe Maschinen bedienen können oder Wissensarbeit leisten, die kein Roboter ihm abnehmen kann. Müssen die Schulen jetzt jedes Kind studierfähig machen?
EU, Bund und Länder sind bestrebt, das Bildungsniveau der Bevölkerung zu steigern. Bildung gilt als grundlegende Voraussetzung für die individuelle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einerseits und für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland andererseits. Gemessen wird Bildungserfolg gemeinhin in Abschlüssen, sei es beim Verlassen der allgemeinbildenden Schulen, von Berufsschulen oder Universitäten.
Entsprechend wurde es jahrelang sehr positiv bewertet, dass immer mehr Schüler das Abitur ablegten, immer mehr Menschen in Deutschland eine Studienberechtigung erlangten.
Diese Entwicklung hat auch die Schullandschaft verändert. Weil die Hauptschule, die einmal die meisten Schüler in Deutschland aufnahm, den Ruf der „Resteschule“ bekam, wurde sie so unattraktiv, dass sie in einigen Regionen bereits ganz verschwunden ist. Bildungsforscher, Lehrer, Eltern und Politiker streiten darüber, ob das für schwache Schüler gut oder eher nachteilig ist.
Mehrgliedriges Schulsystem
Ursprünglich sprach man in Deutschland von einem dreigliedrigen Schulsystem, bestehend aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium (manche sprechen mit Blick auf die Förderschulen auch vom viergliedrigen System). Einige Bundesländer, zum Beispiel Bayern, halten noch an diesem System fest. In den meisten Bundesländern geht die Entwicklung in der Sekundarstufe aber stark zu einer Zweiteilung: Gymnasium und eine integrierte Sekundarschule mit eigener Oberstufe, auf der sämtliche Bildungsabschlüsse möglich sind.
In Nordrhein-Westfalen können Schüler nach der Grundschule derzeit auf folgende Schularten wechseln: Gymnasium, Sekundarschule, Gesamtschule, Realschule, Hauptschule oder Förderschule. Daran anschließen kann sich die gymnasiale Oberstufe an einem Gymnasium oder der Gesamtschule oder auch der Besuch eines Berufskollegs.
Um die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu verbessern, sollen Schüler nicht nur gut ausgebildet sein, sondern auch möglichst früh in den Arbeitsmarkt eintreten. Weil im Zuge des demografischen Wandels ein immer geringerer Teil der Bevölkerung in die Sozialkassen einzahlt und Unternehmen einen Mangel an Fachkräften beklagen, hat ein Großteil der Bundesländer zwischen 2001 und 2007 die Schulzeit der Abiturienten auf zwölf Jahre verkürzt. Viele Eltern und Schüler protestierten in der Folge gegen diese sogenannte G8-Reform: Sie erhöhe den Leistungsdruck auf die Schüler, schließe Kinder, die nur etwas mehr Zeit bräuchten, vom Abitur aus. Unter anderem in NRW hatten diese Proteste auch Erfolg.
Dass die G8-Reform tatsächlich die Anforderungen an die Schüler überall erhöht hat, ist allerdings eine umstrittene These. So berichten einige Lehrer, Professoren und Bildungsökonomen auch, das Niveau der Abschlussprüfungen sei (nochmals) gesenkt worden – mit Folgen für die durchschnittliche Leistungsfähigkeit und Vorbereitung von Studienanfängern. Darunter leide in der Folge die akademische Ausbildung.
G8 vs. G9 am Gymnasium
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In der Schule finden Schüler in Deutschland also sehr unterschiedliche Bedingungen vor. Um sie zumindest beim Verlassen der Sekundarschule vergleichen und Studienplätze bundesweit nach dem Leistungsprinzip vergeben zu können, wurde in den vergangenen Jahren versucht, zumindest die Abschlussprüfungen etwas zu vereinheitlichen.
Zentralabitur
Viele Studienplätze in Deutschland werden zentral vergeben, etwa in Medizin. Das Abitur wird dezentral erworben, in jedem Bundesland nach anderen Regeln und Standards. Um dem zumindest ein wenig beizukommen, versucht die Kultusministerkonferenz seit einiger Zeit, das Abitur ein bisschen zu zentralisieren. Nach langen Beratungen war es 2017 so weit: Erstmals konnten sich alle Bundesländer in den Fächern Mathematik, Deutsch, Englisch und Französisch aus einem gemeinsamen Aufgabenpool bedienen. Die Betonung liegt auf „konnten“, denn einen Zwang zur Einheitlichkeit gab es nicht.
Das Abitur sei in den Ländern „zu unterschiedlichen Preisen“ zu haben, kritisiert weiterhin Heinz-Peter Meidinger, Chef des Deutschen Philologenverbands. Der gemeinsame Aufgabenpool ist ohnehin nur ein kleiner Schritt zur Vergleichbarkeit. Denn wie die Abschlussarbeiten korrigiert werden, unterscheidet sich zwischen den Ländern immer noch stark. Von einem vergleichbaren Abitur ist Deutschland weit entfernt.
Bildung als Wahlkampfthema: Kooperationsverbot und mehr Chancen für Arbeiterkinder
Auch wenn die Bildung in Deutschland großenteils Ländersache ist, sind die Positionen der Parteien, die sich am 24. September zur Bundestagswahl stellen, beachtenswert – zumal einige Parteien das umstrittene Kooperationsverbot lockern oder gar aufheben möchten.
Die Positionen der Parteien zur Bildungspolitik im Schul- und Vorschulbereich:
- Union: In ihrem Wahlprogramm empfehlen sich CDU und CSU als „Garant für gute Bildung und Ausbildung“. Diese wollen sie vor allem mit einer „digitalen Bildungsoffensive“ für Lernende und Lehrende ermöglichen. Mit einer höheren Durchlässigkeit zwischen den Schultypen sollen stärkere und schwächere Schüler gefördert werden. Das Gymnasium will die Union jedoch als eigenständige Schulform erhalten. Der Bildungsföderalismus hat sich nach Meinung der Konservativen bewährt: „Schulbildung ist nach der Ordnung des Grundgesetzes Ländersache und wird es bleiben“, heißt es im Wahlprogramm.
- SPD: Die Zukunftschancen deutscher Kinder hängen nach Ansicht der SPD zu sehr von Einkommen und Vermögen der Eltern ab. „Deshalb machen wir die Bildung gebührenfrei – und zwar komplett“, kündigen die Sozialdemokraten an. Sie wollen in Kindertagesstätten investieren und einen „Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung“ durchsetzen. Außerdem soll Schluss sein mit baufälligen Schulgebäuden und abgewetzten Schulbänken. Neue Finanzierungsquellen möchte die SPD beim Bund erschließen: die Partei will das Kooperationsverbot schrittweise aufheben.
- Linke: Das deutsche Bildungssystem verschärfe „die soziale Spaltung der Gesellschaft, statt entgegenzuwirken“, monieren die Linken in ihrem Wahlprogramm. Als Gegenmittel schlagen sie mehr Personal in Bildung und Erziehung vor. Der Betreuungsschlüssel in Kindertagesstätten müsse verbessert werden. Außerdem steht die Linkspartei für „eine Gemeinschaftsschule, die kein Kind zurücklässt und sozialer Ungleichheit entgegenwirkt“. Das Kooperationsverbot wird als Hindernis für gleiche Bedingungen beim Lernen und Lehren angesehen.
- Die Grünen: „Zu oft bestimmt immer noch die Herkunft die eigene Zukunft und nicht etwa Talent oder Fleiß“, kritisieren auch die Grünen. Um auch Kindern aus Arbeiterfamilien den Aufstieg zu erleichtern, soll der Bund „mit mindestens drei Milliarden Euro pro Jahr eine größere Verantwortung für die frühkindliche Bildung“ übernehmen und alle Schulen fit für die Zukunft machen. Bund und Länder sollten zusammenarbeiten, etwa um vergleichbare Schulabschlüsse in ganz Deutschland zu realisieren.
- FDP: In der Programm-Überschrift versprechen die Liberalen „weltbeste Bildung“. Um das zu erreichen, sollen die Bildungsausgaben auf das Niveau der fünf OECD-Staaten angehoben werden, die am meisten in die Bildung investieren. Schulen sollten nach den Vorstellungen der FDP im Wettbewerb stehen, freie Schulen will die Partei gleichwertig unterstützen.
- AfD: Die Alternative für Deutschland strebt ein Schulsystem an, das nach Begabung differenziert ist und „dem unterschiedlichen Leistungsvermögen der Schüler gerecht“ werde. Die Rechtspopulisten sprechen sich gegen eine „ideologisch motivierte Inklusion“ von Kindern mit besonderem Förderbedarf und „Sonderrechte für Muslime an unseren Schulen“ aus.