Gastbeitrag: Schafft die Schule ab: Warum unser Schulsystem unsere Kinder nicht bildet und radikal verändert werden muss

Schulreformen „Keinesfalls alles abnicken, was die Schule vorgibt“

Ex-Schulleiter Oliver Hauschke fordert in seinem Buch „Schafft die Schule ab!“ radikale Bildungsreformen. Hier erklärt er, warum sich Schule nicht erneuern kann – und warum er auf den Leidensdruck der Eltern hofft.

Quelle: SPIEGEL, Ein Interview von Armin Himmelrath

23.01.2020, 08:43 Uhr

Zur Person privat

Oliver Hauschke, Jahrgang 1972, studierte Wirtschaftswissenschaften, Geschichte und Politik. Seit 2000 unterrichtete er an Gymnasien und Gesamtschulen. Als Schulleiter baute er ab 2009 eine gymnasiale Oberstufe auf. Er ist Vater von zehn Kindern, sechs davon schulpflichtig.

SPIEGEL: Herr Hauschke, wenn man dem Titel Ihres Buchs glauben darf, würden Sie am liebsten alle Schulen schließen. Ist der Frust nach über 20 Jahren als Lehrer und Schulleiter so groß?

Hauschke: Mich ärgert, dass sich Schulen, so wie sie jetzt sind, nicht reformieren lassen und die notwendigen Veränderungen viel zu langsam angehen.SPIEGEL: Was läuft denn schief?

Hauschke: Überspitzt könnte man sagen: Die Kinder in der Schule müssen sich einem System anpassen, das weder didaktisch noch organisatorisch auf der Höhe der Zeit ist.

SPIEGEL: Was müsste sich ändern?

Hauschke: Wir wissen ja schon lange, wie guter Unterricht funktioniert. Das zeigen uns Schulen, die mit Schulpreisen ausgezeichnet werden: Da geht es unter anderem um individuelle Lernwege, um gelingende Motivation, um forschendes Entdecken. Aber von diesen Vorbildern übernehmen wir so gut wie nichts in die Breite. Und auch wissenschaftliche Erkenntnisse, etwa aus der Entwicklungspsychologie, werden in den Schulen standhaft ignoriert.

SPIEGEL: Ein Beispiel, bitte.

Hauschke: Schauen Sie sich in den Klassenzimmern doch mal um: Da gibt es viel zu viel Stagnation zu beobachten. Schulen sind heute immer noch so, wie sie waren, als ich zur Schule gegangen bin, als meine Eltern zur Schule gegangen sind.

SPIEGEL: Aber Unterricht ist doch heute viel offener und schülerzentrierter, Schüler können selbst viel aktiver sein, mehr mitmachen. Und Lernen wird nicht mehr als Drill verstanden, wie es früher noch häufig der Fall war.

Hauschke: Klar, das sind die kleinen Veränderungen, die immer alle anpreisen: Wir haben die Lehrerzentrierung reduziert! Es gibt weniger Frontalunterricht und mehr Gruppenarbeit! Aber wenn wir ehrlich sind, dann sind das nur Kleinigkeiten, die sich gewandelt haben. Das Grundprinzip ist gleichgeblieben: Einer weiß was, die anderen versuchen, es für die Prüfung ins Kurzzeitgedächtnis zu bekommen. Ich denke, dass sich Schule hier grundlegend wandeln muss. Denn wir sehen ja, dass die Schulbildung am Ende nicht nachhaltig ist – egal, ob jemand das Abitur macht, den Real- oder Hauptschulabschluss.

Ehrlicherweise ist Schule in einem solchen Fall Lebenszeitverschwendung für unsere Kinder.

SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

Hauschke: Das, was man in der Schule gelernt hat, ist kurz danach zu 90 Prozent wieder weg. Ehrlicherweise ist Schule in einem solchen Fall Lebenszeitverschwendung für unsere Kinder. Wenn wir schon viele Jahre Zeit für die Schule aufwenden, dann muss das, was sie mitnehmen, auch nachhaltig sein. Die Schüler sollen damit etwas anfangen können. Dafür sollten Schulen da sein, das müssen sie leisten können. Und wenn Schule das nicht leisten kann, dann gehört sie eben abgeschafft.

SPIEGEL: Und dann? Lernt jeder für sich selbst?

Hauschke: Nein, die bisherige Schule muss ersetzt werden durch etwas Neues: durch neue Lernorte, durch neue Formen des Zusammenkommens, durch Werkstätten, durch eigenes Erforschen. Natürlich müssen Kinder strukturiert lernen – allerdings ganz anders als bisher.

SPIEGEL: Es gibt in der Bildungspolitik doch bereits einen Wandel, wonach Schulen eben nicht mehr vorrangig Wissen vermitteln sollen, sondern Kompetenzen, damit Schüler sich selbst Wissen aneignen können. Trotzdem schreiben Sie in Ihrem Buch, die herkömmliche Schule könne neue Formen des Lernens nicht ermöglichen. Warum glauben Sie das?

Hauschke: Das Schul- und Bildungssystem müsste sich dafür ja konsequenterweise selbst abschaffen. Denn wir haben natürlich starke rechtliche Vorgaben. Und wir haben viel staatlichen Einfluss in der Bildung: Jedes Bundesland darf selbst über die Bildungspolitik entscheiden. Das wiederum ermöglicht es jeder Landesregierung, nach eigenem Gusto und aktueller politischer Lage die Schulpolitik in die eine oder in die andere Richtung zu bewegen. Und was man gerade umgesetzt hat, wird dann vielleicht durch die nächste Regierung wieder rückgängig gemacht. Auf diese Weise erhält sich das System selbst. Das Problem ist: Das alles schadet den Schulen massiv.

Die Schulen bekommen ihre Klientel so oder so – egal, was sie machen.

SPIEGEL: Aber es gibt doch immer mehr Privatschulen, die andere Formen des Lernens anbieten.

Hauschke: Ja, die gibt es natürlich. Aber auch die Privaten müssen bestimmte Standards erfüllen, damit sie überhaupt zugelassen werden. Eine wirkliche Konkurrenz ist das in den allermeisten Fällen nicht. Dazu kommt: Wenn ein Schüler nicht das Privileg hat, dass eine wirklich alternative Schule in der Nähe liegt, dann ist er gezwungen, auf die Schule vor Ort zu gehen. Im Umkehrschluss heißt das: Die Schulen bekommen ihre Klientel so oder so – egal, was sie machen. Und das muss aufgebrochen werden.

SPIEGEL: Sie waren selbst viele Jahre Lehrer und Schulleiter. Was hat Sie davon abgehalten, Ihre Schule grundsätzlich umzukrempeln.

Hauschke: Nach einem Vortrag des Erziehungswissenschaftlers Peter Struck aus Hamburg auf einer schulinternen Lehrerfortbildung, die mir besonders die Augen geöffnet hat, war es tatsächlich breiter Konsens im Kollegium, unsere Schule in besonderer Weise pädagogisch zu verändern und voranzubringen. Alles war denkbar – womit es auch schon wieder endete: denken ja, aber bloß nicht aktiv werden. Eine Schulleitungskollegin und ich konnten die anderen im Schulleitungsteam nicht einmal davon überzeugen, uns erfolgreich arbeitende Schulen anzusehen und Ideen zu sammeln. Mit personeller Veränderung in der Schulleitung begann dann sogar ein Prozess, Errungenschaften rückgängig zu machen. Der Wille zu Veränderungen ist eben doch nur eine Worthülse.

SPIEGEL: Können denn einzelne Lehrerinnen und Lehrer etwas tun, damit sich an Schulen etwas ändert?

Hauschke: Relativ wenig. Echte Veränderungen sind nur als Institution möglich. Aber als einzelne Lehrkraft kann man natürlich, dafür plädiere ich immer wieder, das einzelne Kind sehen. Und den Unterricht vom Kind und vom Thema her gestalten. Man kann überlegen: Wie war ich in dem Alter? Wie würde ich das sehen, wenn ich in dem Alter bin? Das ist ganz wichtig und gilt für die Notengebung, für den Aufbau des Unterrichts, für die Wege, die ich im Unterricht gehe. Man kann Schüler auch stärker einbeziehen in die Unterrichtsplanung. Aber all das sind nur Tropfen auf den heißen Stein, die den Schülern das Leben etwas leichter machen. Die grundlegenden Schwierigkeiten von Schule werden dadurch nicht verändert oder beseitigt.

Wir müssen unsere Kinder doch auf die Zukunft vorbereiten.

SPIEGEL: Welche Möglichkeiten bleiben den Eltern? Sie sind selbst Vater – fühlen Sie sich in dieser Rolle der Schule gegenüber hilflos oder als Gestalter?

Hauschke: Als Eltern sind wir dem System weitgehend ausgeliefert. Ich glaube, diese Frustration, die Eltern im Schulsystem erleben, ist auch ein Grund dafür, dass viele Eltern mittlerweile Rechtsmittel einlegen. So versuchen sie, überhaupt Gehör zu finden für das, was sie ungerecht finden. Eltern können wenig tun, trotzdem sollten sie keinesfalls einfach alles abnicken, was die Schule ihnen vorgibt, sondern besonders kritisch sein. Und sie müssen politisch Druck machen. Sie müssen sagen: So wollen wir unser Kind nicht unterrichtet haben! Wir wollen das anders! Die Eltern müssen zu den Hauptakteuren der Veränderung werden.

SPIEGEL: Für wie realistisch halten Sie denn Ihre Hoffnung, dass diese umwälzenden Reformen, die Sie fordern, tatsächlich bald kommen?

Hauschke: Das hängt vom Druck der öffentlichen und politischen Debatte ab. Deshalb habe ich ja auch das Buch geschrieben, um diese Diskussion anzuschieben. Klar ist: Was wir in besonders guten Schulen herausgefunden haben, müssen wir in die Breite der öffentlichen Schulen hineintragen. Denn wir müssen unsere Kinder doch auf die Zukunft vorbereiten: auf neue Formen des Lernens, der Weiterbildung und des Arbeitens. Heute allerdings bereiten wir sie auf eine Vergangenheit vor, die nicht mehr wiederkommt – die Zeit der Frontalpädagogik in Großgruppen ist endgültig vorbei.