Eine Schule für alle Kinder #
Wenn heute die Schülerinnen und Schüler morgens das Schulgebäude betreten, werden sie gleich am Eingang von einer Begrüßungswand empfangen: „Herzlich willkommen!“ steht dort geschrieben, in 16 verschiedenen Sprachen. „Eine Schule für alle Kinder“ – das ist das Motto der Grundschule am Dichterviertel. Rund zwei Drittel der Kinder haben eine Zuwanderungsgeschichte, mehr als die Hälfte spricht zu Hause kein Deutsch. Viele der Familien, die ihre Kinder zur Schule schicken, haben ein deutlich unterdurchschnittliches Einkommen oder beziehen Arbeitslosengeld.
„Wenn die Kinder zu uns kommen, dann haben sie Entwicklungsunterschiede von bis zu vier Jahren“, sagt Nicola Küppers. Mit so einer Heterogenität kann traditioneller Unterricht nicht umgehen. Die Schule entschied sich, auf individualisiertes und jahrgangsübergreifendes Lernen zu setzen.
Lernlandkarte_Grundschule_am_Dichterviertel_Mülheim
Lernplanzeit #
Etwa die Hälfte der Unterrichtszeit wird in der sogenannten Lernplanzeit verbracht. An der Wand jedes Klassenzimmers hängen dazu Ansammlungen von Kärtchen: 28 Stück für Deutsch, 48 für Mathematik, jeweils aufgeteilt in die Lernstufen eins bis vier. Die Kärtchen – hier heißen sie „Lernfelder“ – bilden die Kompetenzen ab, die die Schülerinnen und Schüler bis zum Ende der Grundschulzeit gemeistert haben sollten. Mithilfe der hochgradig differenzierten und digital gestützten Materialien erarbeiten die Kinder in ihrem eigenen Tempo die Kompetenzen des jeweiligen Lernfelds.
An den Lernfeldkarten stecken Wäscheklammern, die jeweils den Namen eines Kindes tragen. So wird sichtbar, wo sich ein Kind gerade auf seinem Lernweg befindet. Iyad und Anastasia arbeiten noch am allerersten Lernfeld: Mengen und Zahlen bis 10. Aila ist schon fünf Karten weiter, im Zahlenbereich 20. Josua ist gerade bei der halbschriftlichen Addition auf Lernstufe 3 (die früher „dritte Klasse“ hieß). Am Ende jedes Themas führt das Kind einen Selbst-Check oder eine von der Lehrkraft korrigierte Lernzielkontrolle durch, bevor es die Wäscheklammer auf der nächsten Karte anbringt.
Alle drei Wochen wird die Lernplanzeit durch eine Themenwoche ersetzt. Dann beschäftigt sich die ganze Schule mit einem Thema aus den Fächern Mathematik, Deutsch oder Philosophie, das sowohl von den Erst- als auch von den Viertklässlern gemeinsam erarbeitet werden kann – so wie in dieser Woche mit dem Thema „Wahrscheinlichkeit“. Ergänzt werden die Lernplanzeiten und Themenwochen durch den Fachunterricht, der überwiegend in dreiwöchigen Epochen und als Projektunterricht organisiert ist. Auch hier sind die Themen so angelegt, dass alle Altersstufen davon profitieren – oft auch mit Phasen individualisierten Lernens.
Es kommt auf die Tiefenstrukturen an #
Wirft man einen Blick in die empirische Bildungsforschung, zum Beispiel in die Hattie-Studie, so mag es überraschen, dass der Faktor „Individualisierung“ nur einen schwachen Effekt auf den Lernerfolg aufweist. Warum Bemühungen um eine Individualisierung des Unterrichts oft nicht ihre volle Wirkung entfalten, wird in der Bildungsforschung lebhaft diskutiert. Der Bildungsempiriker Frank Lipowsky von der Universität Kassel postuliert, dass bei der Umsetzung offener, individualisierter Lernformen die Lehrkräfte oft mit den vielen parallel ablaufenden Lernprozessen zu überfordert sind, um die Lernenden fachlich angemessen zu unterstützen. Oft komme es auch bei der Umsetzung individualisierten Lernens nicht zu einem produktiven Austausch der Schülerinnen und Schüler untereinander. Anstatt das hohe Potenzial kooperativer Lernformen zu nutzen, bei denen gemeinsam reflektiert oder argumentiert wird, verkommt eine schlecht umgesetzte Individualisierung zu einem Nebeneinandersitzen und Abarbeiten vorgefertigter Arbeitspläne.
Auch Schulleiterin Nicola Küppers sagt, Individualisierung allein bringe wenig. Entscheidend sei die Frage, welche Lernsettings Kinder dazu anregen, sich auf hohem Niveau auszutauschen, zu reflektieren und sich gegenseitig Feedback zu geben – und wie Lehrkräfte diese Lernprozesse unterstützen. „Es darf keine Beliebigkeit geben“, sagt Küppers. „Individualisierter Unterricht braucht sehr starke Strukturen, um die Tiefenstrukturen, die guten Unterricht ausmachen, zu verankern.“
Lernreflexionen und kooperative Formate als Ergänzung zum individualisierten Lernen #
Bevor Katharina Fleischer am Montagmorgen mit ihrer „Drachenklasse“ über die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit eines Regenschauers diskutierte, mussten die Kinder an einer digitalen Umfrage auf ihrem persönlichen iPad teilnehmen. Dort wurde abgefragt – und anschließend auch visualisiert –, wie die Schülerinnen und Schüler sich selbst in Bezug auf das anstehende Thema einschätzen. Was können sie schon? Was wollen sie noch lernen? Umfragen wie diese helfen am Ende der Themenwoche, den Lernfortschritt sichtbar zu machen.
Solche Reflexionen sind in der Grundschule am Dichterviertel Standard – auch nach jeder Lernplanzeit. Die Lernplanzeit jedes Kindes wird von einem persönlichen Wochenplan begleitet. Dort muss jedes Kind nicht nur dokumentieren, woran es individuell arbeitet, sondern auch abhaken, wie viele „Konferenzen“ es in der Woche geschafft hat: Die Mathekonferenz ist ein Format, bei dem Kinder in Kleingruppen individuelle Lösungswege präsentieren und reflektieren. Mit differenziertem Moderationsmaterial ausgestattet, tauschen sie sich mündlich über mathematische Inhalte aus. Sie sollen ihre Vorgehensweisen und Entdeckungen erläutern, begründen und die Gedanken anderer verstehen. Anschließend wechseln sie ihre Rollen nach dem Rotationsprinzip. Ähnliche kooperative Lernformate gibt es in den regelmäßigen Lese- und Schreibkonferenzen.
Förderangebote durch flexible Personalressourcen #
Durch die Umstellung auf selbstgesteuertes Lernen in der Lernplanzeit konnte die Grundschule am Dichterviertel auch ihren Personaleinsatz flexibler gestalten. Zum Beispiel wird schulweit auf Doppelbesetzungen verzichtet. Stattdessen werden Förderräume für Kleingruppen parallel angeboten. Den Kindern stehen so, über den Schultag verteilt, vielfältige Unterstützungsorte zur Verfügung.
Wenn eine Gruppe an Schülerinnen und Schüler aus drei verschiedenen Klassen Schwierigkeiten mit der schriftlichen Multiplikation hat, dann spricht sich das Kollegium ab und organisiert in der Woche ein Zeitfenster dafür. Die Lehrkraft, die sich in der Schule didaktisch hier am besten auskennt, kann sich der Kleingruppe widmen.
Feste Teamzeiten für Absprachen und Unterrichtsentwicklung #
Um eine solche Flexibilität zu nutzen und organisatorisch zu bewältigen, hat die Grundschule jeden Dienstag feste und verpflichtende Teamzeiten etabliert. Das gesamte Kollegium trifft sich und vereinbart für die kommende Woche: Welche Unterstützung wird benötigt? Wer kann was anbieten?
Die Teamzeit wird auch für Fachkonferenzen genutzt. Diese planen gemeinsame Unterrichtsstunden, oft arbeitsteilig. Diese Stunden werden dann vom gesamten Kollegium umgesetzt. Für Nicola Küppers ist das eine Voraussetzung für den Erfolg ihrer Schule: „Es kann nicht sein, dass man in ein Flugzeug steigt und Angst haben muss, wo jemand ausgebildet worden ist oder ob der Techniker schlecht geschlafen hat. Wir haben die Verantwortung, darüber nachzudenken, wie wir die beste Schule mit der geringsten Arbeitsbelastung werden können. Und das geht nur, wenn wir zusammenarbeiten.“
Quelle:
https://deutsches-schulportal.de/unterricht/deutscher-schulpreis-2023-grundschule-am-dichterviertel/