2.2.1 Funktionen des Bildungswesens:
Das Bildungswesen (siehe Kap. 1.4.3) erfüllt Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsfunktionen, wobei diese Funktionsbereiche interdependent miteinander verknüpft sind und einander bedingen (Abb. 9). Alle drei Bereiche beziehen sich einerseits auf Individuen und andererseits auf die Gesellschaft: Schule ist somit eine Form der Vorbereitung auf das weitere Leben (Bude, 2021). Im Einzelnen können
(nach Graf & Lamprecht 1991, S. 76 – 79) weitere Funktionen des Bildungswesens ausdifferenziert werden (ausführlicher siehe Meyer, 1997, S. 289ff):
Zunächst einmal sollen junge Menschen durch die in der Schule stattfindenden Erziehungs- und Bildungsprozesse zu mündigen, für sich selbst und ihr Umfeld verantwortlich denkenden und handelnden Bürgerinnen bzw. Bürgern heranwachsen. Sie werden in der Schule gefordert und gefördert, entfalten ihre Persönlichkeit und sie entwickeln Wissensbestände und Kompetenzen, um ihr Leben in der sie umgebenden Gesellschaft gelingend zu gestalten. Darüber hinaus wird eine Qualifikationsfunktion hervorgehoben, was insbesondere auf den Erwerb von Qualifikationen, Fähigkeiten und Fertigkeiten für das spätere Berufsleben eines jeden Individuums abzielt. Die Reproduktions- und Weiterentwicklungsfunktion dient der nachhaltigen Sicherung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse; die Integrationsfunktion weist auf den Prozess der Einpassung heranwachsender Individuen in das soziale Leben bzw. die Gesellschaft hin (Teilnahme und Teilhabe an Arbeitsmarkt, Konsum, Kultur, Demokratie bzw. politischen Prozessen usw.). Abschließend zu nennen ist die Selektions- und Allokationsfunktion, die das Klassifizieren und Zuordnen von Individuen entsprechend ihrer Leistung bzw. Rolle und Funktion innerhalb der Gesellschaft zum Ausdruck bringt. In besonderem Maße ist dabei allerdings auch die Kompensations bzw. Ausgleichsfunktion des Bildungswesens zu beachten: Allen Kindern, unabhängig von ihrer Herkunft und ihren sozioökonomischen Voraussetzungen, soll das Bil–
dungswesen die gleichen Bildungschancen einräumen und zuverlässig sichern. Vor allem im Hinblick auf jüngere Kinder kommen schließlich noch mindestens zwei weitere, sehr bedeutende Funktionen hinzu: die Kontroll– sowie die Schutzfunktion. Meyer (1997, S. 307) schreibt in diesem Sinne explizit: „Schule hat [die Funktion,] ihren Schülerinnen ein Aufwachsen in Menschlichkeit zu ermöglichen.“
Lehrkräfte und weitere pädagogische Fachkräfte in der Schule sehen ihre Schülerinnen und Schüler in der Regel z. B. täglich, sodass sie deren Entwicklung aus nächster Nähe verfolgen können. Gefährdende Signale (Verdacht auf häusliche Gewalt, Kindeswohlgefährdung, Missbrauch usw.) werden meist zuerst in der Schule wahrgenommen. Wenn aufgrund einer lang anhaltenden Krisenlage dieser Schutz
wegen Schulschließungen entfällt, so kann dies in einigen Fällen dramatische Auswirkungen haben2. Für viele Kinder und Jugendliche ist oder kann die Begegnung mit ihrer Lehrkraft, d. h. mit ihrer Bezugsperson, auch fundamental wichtig sein im Sinne von Schutz, Geborgenheit und Vertrauen. Eine weitere Funktion des Bildungswesens ist in der Coronavirus-Pandemie besonders deutlich geworden. So gewährleisten Kindertagesstätten und Schulen, dass Eltern einer geregelten Erwerbstätigkeit nachgehen können: Ohne die Übernahme
einer Betreuungsfunktion wäre dies nicht möglich, weil v. a. jüngere Kinder dann unbeaufsichtigt allein blieben und dadurch zweifellos einer Gefährdung ausgesetzt sein würden.
Darüber hinaus ist zu beachten, dass Schulen bzw. dem möglichst vertrauten Schulalltag gerade in Krisensituationen eine stabilisierende und Halt gebende Funktion zukommt (Pat-Horenczyk et al., 2011; Karutz, 2020): Diverse Publikationen und Studien weisen eindringlich auf die Bedeutung von Schulen bzw. eines traumasensiblen Umfeldes für die Bewältigung belastender, kritischer Lebensphasen hin (Lohmann, 2017; Karutz, 2020). So wird nicht nur Bildung an sich (Brewin et al., 2000), sondern werden auch funktionierende, pädagogisch professionell betriebene Bildungseinrichtungen explizit als eine „protektive Variable“ bezeichnet, die beispielsweise der Entwicklung von Traumafolgestörungen entgegenwirken kann (Karutz, Fegert & Blank-Gorki, 2020): Fehlt Bildung, wird die Bewältigung schwieriger Situationen ganz grundsätzlich erschwert.
Auch gesamtgesellschaftlich hat Schule in diesem Zusammenhang eine enorm wichtige, zukunftssichernde und stabilisierende Funktion; umgekehrt führt die Destabilisierung von Schule (zumindest langfristig) zu einer Destabilisierung der Gesellschaft (Martinez, 2021). Aus diesem Grund werden auch in Kriegs- und Krisengebieten international engagierte Bemühungen unternommen, Schulen weiter zu
betreiben bzw. zerstörte Schulen möglichst rasch wiederzueröffnen. Zugleich gilt umgekehrt: Bildungseinrichtungen werden beispielsweise von Terroristen als geeignete Ziele betrachtet, um eine Gesellschaft besonders empfindlich zu schädigen (Meister, 2021; siehe Kap. 2.4.4 und 2.4.5).
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